„DIE SCHRIFT SAGT, SIE STEHT STILL. Und die Doktoren
Beweisen, dass sie stillsteht, noch und noch
Der Heilige Vater nimmt sie bei den Ohren
Und hält sie fest. Und sie bewegt sich doch!“ B.B.
Text: Tanja Peball/Dramaturgie
Über „Leben des Galilei“ von Bertolt Brecht oder: „Geteiltes Leid ist halbes Leid“
Es waren vielleicht autobiografische Gründe, die Brechts Interesse an Galileo Galilei 1933 beginnen ließ. Zu diesem Zeitpunkt wurden in Europa seine Bücher von den Nazis verbrannt. 300 Jahre zuvor wurde Galilei gezwungen, seine „Erde-um-die-Sonne-Theorie“ vor der Inquisition zu widerrufen. Im Jahr 1947/48 wurde Brecht schließlich im amerikanischen Exil gezwungen, in einer von Senator Joseph McCarthy gestarteten Untersuchung („Hearing before the Committee on Un-American Activities“), seine politisch-ideologische Zugehörigkeit zum Marxismus zu leugnen. Galilei konnte ebensowenig seine Forschungen zu den Sonnenflecken und den Jupitermonden aufgeben, wie auch Brecht nicht aufhörte, seine politisch-ideologischen Ideen in seine Stücke und in seine Arbeit einzuschreiben.
Die Parallelität zwischen dem „Leben des Galilei“ und dem Leben des Bertolt Brecht liegt in der Verfolgung, in der Unterdrückung intellektueller Freiheit und im Erleben eines Identitätsverlustes und einer Aufspaltung zwischen Denken, Handeln und Glauben. Der von Marcel Reich Ranicki in einem Interview als „egomanischer Theaterbesessener“ bezeichnete Bertolt Brecht, stellte sein eigenes Leben in Beziehung zu einem der größten Wissenschaftler am Beginn der Neuzeit. Diese Tatsache bestätigt Reich Ranickis Aussage. Durch und durch Theatermensch, machte er sich und sein eigenen Leben selbst zur dramatischen Figur und zum Drama.
Brecht entwirft in fünfzehn „Bildern“ einen Galilei, der sein Leben dem dialektischen Denken verschrieb. Diese Dialektik, als Werkzeug und grundlegender Zugang zum Leben begriffen, ermöglicht es erst, die Widersprüche in der Figur des Galilei darzustellen. Der brechtsche Galilei ist von der menschlichen Vernunft besessen. Er glaubt fest daran, dass Menschen lediglich vernünftige Gründe benötigen, um althergebrachte Lehren aufzugeben. Galilei unterschätzt dabei einerseits die Macht und Autorität der Kirche, andererseits die materielle und geistige Abhängigkeit der unterdrückten Massen von dieser Institution. Brecht lässt in diesem Stück auf besondere Art und Weise szenisch kontinuierlich Fragen offen, er lässt Widersprüche unvereinbar nebeneinander stehen indem er Besonderes und Allgemeines gegenüberstellt. Eindeutig ist nur das Einschreiben marxistischer Ideen. Wird es etwa eine Revolution im Denken nach sich ziehen, wenn die Menschen den Übergang von einem ptolemäischen bzw. geozentrischen Weltbild in das kopernikanische bzw. heliozentrische Weltbild vollziehen werden? Wird es – mit Marx gesprochen – das Bewusstsein der „Klassen“ verändern und auch diese Verhältnisse umdrehen? Welche Schlüsse für ihr eigenes Leben werden die Menschen aus Galileis Theorie ziehen? Wohin wird die Menschheit durch die „Entzauberung“ der Welt geführt?
Das Stück macht die Einleitung der empirischen Wissenschaften sowie Fortschritt und Fortschrittsglaube zum Thema. Das Ungleichgewicht in Gesellschaften steht dabei – in unterschiedliche Konstellationen gesetzt – zur Diskussion. Durch das Changieren zwischen den gegensätzlichen Perspektiven im Bezug auf die „eine Wahrheit“ steht Bertolt Brechts das „Leben des Galilei“ im postmodernen Diskurs um das Problem der Legitimation.