Die Wiener Leopoldstadt in den 1930er Jahren: Mitten im jüdischen Ghetto liegt die Gelbe Straße, benannt nach den dort ansässigen Lederhändlern. Hier scheint das kleinbürgerliche Großstadtleben seinen üblichen Lauf zu nehmen: Man trifft sich in der Trafik, im Kaffeehaus und zum Tratsch auf der Straße. Jeder kennt jeden, und weiß etwas über den anderen zu erzählen. Die Protagonisten in Veza Canettis „Die gelbe Straße“ sind groteske Vorstadttypen, trashige Figuren, schräge Persönlichkeiten; eine Herausforderung für ein Theater, das am Schnittpunkt von Bildender und Darstellender Kunst steht.
Doch was in der Ausgangssituation wie ein harmloser Einblick in einen idyllischen Mikrokosmos wirkt, entpuppt sich bald als beißende Satire auf eine Welt, die von Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit gekennzeichnet ist: Die meisten sind wirtschaftlich von einigen wenigen abhängig – das schafft eine schiefe Lage zwischen den Bewohnern der Gelben Straße. Die zwischenmenschlichen Abgründe, das ausbeuterische Verhältnis von Besitzenden und Besitzlosen – dies alles beleuchtet Veza Canetti mit zärtlicher Anteilnahme und schonungslosem Spott. Ihre Sprache ist ebenso sachlich wie höchst ironisch, ihr Blick so teilnahmsvoll wie sezierend. Aus ihren Sätzen spricht die Ideologie einer großen Menschlichkeit, die jeden Täter auch als soziales Opfer versteht. Jeder noch so tragischen Situation kann Veza Canetti eine humorvolle Seite abgewinnen. Am Ende bleibt der Versuch eines Appells an das Gute im Menschen.