Aber wer bin ich denn, wenn ich nicht ich bin?
Alkmene erwartet die Rückkehr ihres Gatten Amphitryon. Statt seiner erscheint ihr Jupiter in der Gestalt des Amphitryon und verführt sie. Als am nächsten Tag der echte Amphitryon zurückkehrt und Alkmene ihm von der vermeintlich gemeinsam durchlebten Nacht erzählt, bricht für ihn nicht nur eine Welt, sondern auch seine Identität zusammen. Er sieht sich durch einen Doppelgänger ersetzt, der ihm bis aufs Haar gleicht und doch mehr zu entsprechen scheint, als er selbst: Wie sonst ist es zu erklären, dass eine Gegenüberstellung mit seinem Doppelgänger dazu führt, dass alle den Jupiter-Amphitryon für den wahren Amphitryon halten? Dein Stock kann machen, dass ich nicht mehr bin. Doch nicht, dass ich nicht Ich bin, weil ich bin, begehrt sein Diener Sosias auf, als er von seinem Doppelgänger – hinter dem sich Merkur verbirgt – geschlagen wird. Letztlich weiß in dieser radikalen Komödie von 1807, die erst 1899 zur Uraufführung kam, niemand mehr, wer er ist. Gibt es ein Ich? Gibt es Individualität? Und wenn ja, warum ist der Einzelne ersetzbar?
Das Doppelgängermotiv wird bis heute in der Literatur viel verwendet und zumeist mit dem Verlust der eigenen Identität assoziiert. Die zentrale Angst der bürgerlichen Gesellschaft vor Gesichtsverlust und Entindividualisierung findet nach romantischen Werken wie E.T.A. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels ihre Fortsetzung in den Schriften von Edgar Allan Poe, Franz Kafka und Fjodor M. Dostojewski.
Die erfolgreiche Regisseurin Karin Henkel wurde bereits mit drei ihrer Arbeiten zum Berliner Theatertreffen eingeladen: Anton Tschechows Platonow (Staatstheater Stuttgart), Der Kirschgarten (Schauspiel Köln) sowie Shakespeares Macbeth (Münchner Kammerspiele). Amphitryon und sein Doppelgänger ist ihre fünfte Arbeit während der Intendanz von Barbara Frey am Schauspielhaus Zürich. Dort inszenierte sie zuletzt Elektra, dramaturgisch verzahnt durch unterschiedliche Quellen und aus zweierlei Blickwinkeln zu erleben.